Donnerstag, 28. August 2008

Kurt Pinthus


* 29. April 1886 in Erfurt

† 11. Juli 1975 in Marbach am Neckar

Schulzeit:
  • Gymnasium Erfurt
  • Studium: Literaturgeschichte, Philosophie und Geschichte (Universitäten: Freiburg im Breisgau, Berlin, Genf und Leipzig
  • 1910 promovierte er zum Dr. phil.

weitere Karriere:

  • literarischer Berater des Rowohlt Verlags
  • Lektor im Kurt-Wolff-Verlag

--> verhalf so vielen Schriftstellern des Expressionismus zur Veröffentlichung

  • Soldatenrat (während Räterrepublik nach dem Erstem Weltkrieg)
  • 1919/1920 veröffentlichte er die Gedichtanthologie "Menschheitsdämmerung" (wurde zu literarischen Standartwerk; Einleitung zeigt die Entwicklungsgeschichte des literarischen Expressionismus auf)
  • Anfang 1920er war er Dramaturg an den Reinhardt-Bühnen in Berlin
  • Journalist bei mehreren deutschen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften
  • zwischen 1925 und 1933 Rundfunksprecher und Mitglied der literarischen Komission bei der "Funkstunde Berlin"
  • 1933 wruden seine Werke von Nationalsozialisten verboten
  • 1938 bis 1940 Dozent an der New School for Social Research in New York City
  • 1941 bis 1947 wissenschaftlicher Berater bei der Theatersammlung der Library of Congress in Washington (D.C.)
  • 1947 bis 1961 unterrichtete er Theatergeschichte an der Colunbia-Universität in New York
  • ab ca 1967 arbeitete er im Deutschen Literatur-Archiv des Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar

Was ist Expressionismus?

1905 - 1925

"expressio" -> Ausdruck

Erster Gebrauch:
1911: Bezeichnung für Bilder

Literarischer Sinn:
Expressionismus = Ausdruckskunst (bei der mit Hilfe derer innerlich gesehener Wahrheiten und Erlebnisse im Sinne der Moderne dargestellt werden)

Entwicklung:

  • Künstler waren mit ihrer Zeit unzufrieden (Entwicklung der Welt war chaotisch verlaufen; Welt war amoralisch) -> sie ahnten die Katastrophe
  • Menschheit war unmöglich -> hatte sich abhängig von ihrer eigenen Schöpfung gemacht (z.B. Technik, Industrie)
Konsequenz: Kampf gegen Zeit und Realität (mit Hilfe der Kunst sollten die Menschen verändert werden)


  • Schreie und Aufforderungen zur Erneuerung
  • Dichter zeigten Klage, Verzweiflung, Aufruhr in ihren Werken

Probleme:

  • Ziele der Bewegung waren sehr allgemein -> ihnen war gleichgültig, in welchem Sinne etwas sich änderte; Hauptsache es geschah etwas --> AKTIVISMUS
Folge: z.B. Erster Weltkrieg wurde als ersehnte Veränderung begrüßt

Expressionismus in der Literatur:
= Abkehr vom Traditionellen und Hinwendung zu neuen Formen und Themen der Moderne

typische Merkmale der Sprache:
  • nicht einheitlich
  • ekastisch
  • übersteigert
  • metaphorisch
  • symbolistisch überhöht
  • versucht, die traditionelle Bildsprache zu zerstören
  • betont Ausdrucksfähigkeit und Rhythmen (welche fließen, hämmern oder stauen können)
  • Sprachverknappung
  • Ausfall der Füllwörter, Artikel und Präpositionen
  • Worthäufung
  • nominale Wortballungen
  • Betonung des Verses
  • Wortneubildungen
  • neue Syntaxformung


http://de.wikipedia.org/wiki/Expressionismus

http://de.wikipedia.org/wiki/Expressionismus_%28Literatur%29

Georg Heym: Die Vorstadt (1911)

In ihrem Viertel, in dem Gassenkot,
Wo sich der große Mond durch Dünste drängt
Und sinkend an dem niedern Himmel hängt,
Ein ungeheurer Schädel, weiß und tot,

Da sitzen sie die warme Sommernacht
Vor ihrer Höhlen schwarzer Unterwelt,
Im Lumpenzeuge, das vor Staub zerfällt
Und aufgeblähte Leiber sehen macht.

Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.
Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf.
Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf,
Wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt.

Es spielen Kinder, denen früh man brach
Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken
Wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken
Um einen Pfennig einem Fremden nach.

Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch,
Wo Bettler starren auf die Gräten böse.
Sie füttern einen Blinden mit Gekröse.
Er speit es auf das schwarze Hemdentuch.

Bei alten Weibern löschen ihre Lust
Die Greise unten, trüb im Lampenschimmer,
Aus morschen Wiegen schallt das Schreien immer
Der magren Kinder nach der welken Brust.

Ein Blinder dreht auf schwarzem, großem Bette
Den Leierkasten zu der Carmagnole,
Die tanzt ein Lahmer mit verbundener Sohle.
Hell klappert in der Hand die Castagnette.

Uraltes Volk schwankt aus den tiefen Löchern,
An ihre Stirn Laternen vorgebunden.
Bergmännern gleich, die alten Vagabunden.
Um einen Stock die Hände, dürr und knöchern.

Auf Morgen geht's. Die hellen Glöckchen wimmern
Zur Armesündermette durch die Nacht.
Ein Tor geht auf. In seinem Dunkel schimmern
Eunuchenköpfe, faltig und verwacht.

Vor steilen Stufen schwankt des Wirtes Fahne,
Ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen.
Man sieht die Schläfer ruhn, wo sie gebrochen
Um sich herum die höllischen Arkane.

Am Mauertor, in Krüppeleitelkeit
Bläht sich ein Zwerg in rotem Seidenrocke,
Er schaut hinauf zur grünen Himmelsglocke,
Wo lautlos ziehn die Meteore weit.

--> Georg Heym
--> Dramenszene "Der Bettler"

Gottfried Benn: Nachtcafé (1912)

824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandeln
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! -

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit. kaum Duft.
Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.

--> Gottfried Benn
--> Analyse und Interpretation (Präsentation)

Kurt Pinthus: Die Überfülle des Erlebens (1925)

Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder! Trotz sicherlich erhöhter Reizbarkeit sind durch diese täglichen Sensationen unsere Nerven trainiert und abgehärtet wie die Muskulatur eines Boxers gegen die schärfsten Schläge. Wie erregte früher ein Mordprozeß, etwa der relativ harmlose der Gräfin Tarnowska, die Welt, wie wurde das Schicksal jedes Raubmörders oder Räuberhauptmanns mit fiebernder Spannung von ganzen Nationen verfolgt - während wir heute in einer ganz kurzen Zeitspanne gleich eine Serie von Massenmördern erleben, deren jeder in aller Ruhe mitten in der Oeffentlichkeit ein paar Dutzend Menschen abgeschlachtet hat. Man male sich zum Vergleich nur aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich durchzukämpfen hat, mit der Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von Verkehrsmitteln wimmelnden Straßen, mit Telephon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. Wer heute zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist, hat noch gesehen, wie die ersten elektrischen Bahnen zu fahren begannen, hat die ersten Autos erblickt, hat die jahrtausendelang für unmöglich gehaltene Eroberung der Luft in rascher Folge mitgemacht, hat die sich rapid übersteigernden Schnelligkeitsrekorde all dieser Entfernungsüberwinder, Eisenbahnen, Riesendampfer, Luftschiffe, Aeroplane miterlebt....Wie ungeheuer hat sich der Bewußtseinskreis jedes einzelnen erweitert durch die Erschließung der Erdoberfläche und die neuen Mitteilungsmöglichkeiten: Schnellpresse, Kino, Radio, Grammophon, Funktelegraphie. Stimmen längst Verstorbener erklingen; Länder, die wir kaum dem Namen nach kennen, rauschen an uns vorbei, als ob wir selbst sie durchschweiften. Der jahrzehntelang vergeblich umkämpfte Südpol ward, innerhalb 34 Tagen, gleich zweimal entdeckt, und der sagenhafte Nordpol wird bald von jedermann auf der Luftreise von Japan nach Deutschland überflogen werden können. Vor kurzem noch ungeahnte Möglichkeiten der Elektrizitätsausnutzung, unheilbare Krankheiten, Diphtherie, Syphilis, Zuckerkrankheit durch neuentdeckte Mittel heilbar geworden, das unsichtbare Innere unseres Körpers durch die Röntgenstrahlen klar vor Augen gelegt, all diese "Wunder" sind Alltäglichkeiten geworden. Im Jahre 1913 noch erließ eine Zeitschrift ein Preisausschreiben: "Welche Nachricht würde sie am meisten verblüffen?" Wie harmlos erschienen die Antworten gegen die Ereignisse , die kurz darauf einsetzten. Der Krieg begann sich über Erde, Luft und Wasser zu verbreiten, mit Vernichtungsmöglichkeiten, die die Phantasie auch der exzentrischsten Dichter nicht zu ersinnen gewesen war. Unsere Heere überfluteten Europa; Dutzende von Millionen Menschen hungerten jahrelang; aus Siegesbewußtsein stürtzten wir in Niederlage und Revolution; Kaiser, Könige und Fürsten wurden dutzendweise entthront. Wer soll noch durch Menschenunglück erschüttert werden, der erlebte, daß vier Millionen Menschen durch Menschenhand im Krieg umgebracht wurden? Die Länder erbebten von Attentaten und Revolten; politische und soziale Ideen, von denen unsere Großeltern noch nichts ahnten, wuchsen über die Menschheit und veränderten das Antlitz der Völker und der Erde. Das Geld, einziger Maßstab realen Besitzes, verlor seinen wert und eroberte ihn wieder. Staatengebilde brachen zusammen; Konferenzen versuchten vergeblich der Welt eine Neuordnung zu geben. Die urälteste Monarchie der Erde, China, ward Republik ... und Maschinen, Maschinen eroberten unsere Planetenkruste. Zusammengeballt in zwei Jahrzehnte erlebten wir mehr als zwei Jahrtausende vor uns. Was haben wir noch zu erwarten, zu erleben? Vermögen wir uns noch zu wundern?

--> Kurt Pinthus

--> Das Bild: Die Großstadt
--> Das Interview mit Kurt Pinthus

Samstag, 23. August 2008

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Website Autoren: Jasmin Saatmann und Sebastian Stelp